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Katharina Kolly-Sidler
05. 04. 1967 – 22. 05. 2011
Katharina

Katharina schrieb etwa
zwei Jahre vor ihrem Tod unter «Persönlich – Buchbinderin» ein Selbst-Portrait in die News ihres Arbeitgebers, der Stiftung Arcadis in Olten. Sie erlebte dort noch ihr 15-jähriges Arbeitsjubiläum. Kurz darauf hatte sie am Arbeitsplatz eine Hirnblutung und starb wenige Tage später. Ihr Ehemann Roger ist noch heute schwer getroffen vom Verlust seiner jungen Frau und wünscht diesen Text als passenden Nachruf.

Etwas prägt meine Persönlichkeit bis heute: Mein wirklich ganz spezielles Elternhaus. 1975, als ich acht Jahre alt war, waren meine beiden älteren Geschwister bereits erwachsen und ausgezogen. Aber zum Glück war da noch meine zweite Schwester, die damals zwölf Jahre alt war. Zu diesem Zeitpunkt – 1975 – zogen wir von Zürich nach Olten in ein stattliches, altes Haus mit Jahrgang 1928.

Zwecks Vereinfachung der Fortbewegung montierte ich meine Gummistiefel "x an meine Rollschuhe. So konnte ich nur schnell hineinschlüpfen und durch den hundert Meter langen Gang des Hauses flitzen. Besonders liebte ich es auch, auf den Händen zu spazieren und zu schauen, wie weit ich kam! Aber das Höchste aller Gefühle war es, wenn ich in einen Servicewagen hineinkroch, in den Himmel schaute und mich so herumstossen liess!

Im Haus lebten noch viele andere Leute, die sich immer sehr freuten, mich zu sehen. Ich war beinahe die Attraktion! Manchmal wurde mir dies aber zuviel, denn oft mäkelten die meist wohlbeleibten Damen, ich müsse mehr Fleisch auf die Knochen bekommen! Dabei war unsere grosse Vorratskammer das Paradies für mich! Angetan hatten es mir die Portionen Päckli der Ovomaltine, die ich ohne Milch zu mir nahm, und das feine Mandarineneis, das in unserem
begehbaren Kühlraum haufenweise gelagert wurde! Wenn meine Mutter kochte, machte sie dies für hundert Personen. Am Anschlagbrett konnte ich mich erkundigen, was es zu essen gab. Doch oft gab es Seltsames wie Kutteln oder Kalbskopf!

In unserem grossen Garten – direkt am Waldrand gelegen – gab es viele gute Kletterbäume. Darauf richtete ich mir meine Wohnung ein und spielte Familie. Ich war zugleich Mutter, Vater und Kind. Dort, in dieser wunderschönen Umgebung, fühlte ich mich geborgen. Meine Eltern arbeiteten zwar im Haus, aber sie waren beide immer sehr beschäftigt. Unser Haus hatte drei Lifte. Der uralte kleine Lift war beinahe unheimlich. Die Fahrt führte bis zum vierten Stock, zur besten Spielmöglichkeit überhaupt! Beeindruckend waren die kleinen, alten Zimmer mit den riesigen Heiligenbilder im Goldrahmen. Und im Estrich gab es einen ganzen Schrank voll gefüllt mit noch guten Kleidern für bedürftige Leute. Der andächtigste Raum aber war die Kapelle. Dort fanden regelmässig Gottesdienste für alle Konfessionen statt. Sogar die Hochzeiten meiner älteren Schwester und diejenige meines Bruders fanden in unserer Kapelle statt!

Das freute die vielen Leute im Haus! Manche von ihnen kannte ich gut, andere kamen und gingen bald wieder, das gehörte dazu. Einige halfen auch mit: Sie rüsteten das Gemüse oder sortierten die Post. Ein ganz freundlicher Mann, der Herr Schaffner, machte sogar den Garten. Ihm habe ich oft zugeschaut, denn er konnte prächtige Blumengestecke anfertigen. ▹

Auch die Mahlzeiten nahmen wir gemeinsam mit fremden Leuten ein. Mit dabei war auch meistens eine geistig behinderte Frau. Sie gehörte quasi zum Inventar des Hauses, denn obwohl sie immer meinte: «Gaaht mi nüüt aa!», wusste sie stets über alles Bescheid und erzählte sehr viel. Doch manchmal – nicht nur bei ihr – waren die gehörten Geschichten während des Essens aber recht beängstigend für mich.

Eigentlich hätte das grosse Haus dringend einen Hauswart gebraucht. Doch mein Vater erledigte dies nebst allen anderen Arbeiten auch noch. Es war spannend, ihn auf seinen Rundgängen zu begleiten. Es gab immer Vieles zu reparieren. Er ist, unter anderem, ein vorzüglicher Handwerker. Meine ersten Werkzeuge habe ich wohl bei ihm kennen gelernt. Tatsächlich ergriff ich – zum Erstaunen meiner Eltern – einen handwerklichen Beruf.

Ich war schon immer der Faszination von Geschichten erlegen und konnte bereits als Kleinkind stundenlang darin schwelgen. Dabei hörte, sah oder las ich eine Geschichte unzählige Male. Erst dann, wenn ich alles bis ins kleinste Detail erfasst hatte, erlag ich der nächsten Bezauberung! Ich glaube, genau deshalb war es mein Wunsch, die Kunst und das Handwerk zu lernen, Geschichten in Büchern zu binden. Wenn mich etwas packt – auch heute noch – so bin ich ganz einfach verloren! Sei es ein Buch, eine neue Herausforderung, ein Projekt, eine ungelöste Rechnung oder eine kreative Arbeit: Meist bin ich so vollständig davon absorbiert, dass ich alles Andere rundum vergesse!

Auch mein weiterer Lebensweg führte mich wohl wegen dieser Eigenschaft – und wegen meines speziellen Elternhauses – in das Haus Schärenmatte, wo ich seit fünfzehn Jahren tätig bin. Hier gibt es für mich immer wieder Neues und Spannendes zu erleben! Nie könnte es mir da langweilig werden! In den Ateliers arbeiten wir mit allen Betreuten des Hauses und es freut mich, wenn es mir gelingt, mit meiner Begeisterungsfähigkeit jemanden zu motivieren und anzustecken! Und ein grosses Haus bin ich mir ja von klein auf gewohnt!

Wer es nicht weiss, ahnt es bestimmt: Mein wirklich ganz spezielles Elternhaus war das Bürgerheim Weingarten in Olten. Meine Eltern leiteten den Betrieb von 1975 – 1995 und sie erhielten für die gute Führung des Hauses sogar eine Auszeichnung der Stadt Olten!

Ich wuchs im Altersheim auf. Was, ehrlich gesagt, nicht immer ganz einfach war. Als ich älter wurde, verloren die schönen Plätze für mich ihre Anziehungskraft und ich fühlte mich trotz der vielen Leute allein. Das grosse Haus wurde mir zu eng. So zog ich bereits im ersten Lehrjahr von zu Hause weg. Tatsächlich musste ich als Erstes lernen, einen «normalen» Haushalt zu führen und darin zu leben, denn das war für mich eine ganz neue Welt! Heute wohne ich zusammen mit meinem Mann und unseren drei Katzen in einem Haus am Schürlimattring, das nur vier Jahre jünger ist als das Bürgerheim Weingarten.Selbstverständlich steht auch unser Haus am Waldrand und unser Garten ist beinahe ebenso gross und schön wie derjenige des Bürgerheims. Wieder – oder immer noch – das Stück Heimat für mich, wo ich mich geborgen fühle!

roger kolly